Ich kann mich nicht mehr genau erinnern – ich war noch winzig, kaum mehr als ein warmer Schatten unter den Felsen am Rand des Meeres. Die Stadt über uns lag im Norden Spaniens, vom Wind gestreichelt, vom Salz gezeichnet. Wir waren fünf Geschwister: zwei Brüder, drei Schwestern, die Kleinste, die Leichteste.
Unser Zuhause war ein schmaler Hohlraum zwischen zwei Felsen, dessen Öffnung sich nach oben hin zur Sonne öffnete, während der Eingang tief über dem Wasserspiegel lag. Unsere Mutter ließ uns dort zurück, wenn sie auf Nahrungssuche ging. Kam sie heim, stürzten wir hungrig über sie her, suchten die warme Milch, die uns am Leben hielt. Doch es reichte nicht immer für alle – und ich war nie die Stärkste. Wir spielten in den Felsen, jagten kleine Krebse, die sich in den nassen Spalten verbargen. Aber es war ein gefährlicher Ort: auf der einen Seite die Wellen, die bei Flut mit der Wucht der Tiefe gegen den Stein schlugen, auf der anderen die Ratten, zahlreich und furchtlos, angelockt von dem Futter, das Spaziergänger für uns Katzen auslegten. Was für uns ein Geschenk war, war für sie ein Fest – und für uns eine ständige Bedrohung. Wir waren klein, sie waren viele.
Eines Tages saßen wir in unserer Höhle und warteten auf die Rückkehr unserer Mutter. Doch sie kam nicht. Die Stunden wurden lang, die Felsen kühlten ab, und unser Hunger biss schon nach unseren Kräften. Als auch am nächsten Tag keine Spur von ihr auftauchte, wussten wir, was wir nicht aussprechen konnten: Sie würde nicht zurückkehren. Vielleicht war es das Meer. Vielleicht ein Hund. Vielleicht die Straße. Vielleicht einfach das Schicksal, das über Straßentiere ohne Gnade richtet. Wir hatten keine Zeit zu trauern. Nach sieben Wochen Leben waren wir zwar keine Neugeborenen mehr, aber auch weit entfernt davon, stark zu sein. Also entschieden wir uns – ohne Worte, nur instinktiv – voneinander Abschied zu nehmen. Jeder sollte überleben, so gut er konnte.
So begann mein Weg. Ich war allein, unerfahren, hungrig – und musste als Erstes ein Versteck finden. Ich erinnerte mich an eine Stelle in den Felsen, die ich einmal entdeckt hatte: im Sommer warm von der Sonne beschienen, geschützt von einem nahe stehenden Busch. Dort verbarg ich mich. Das zweite Problem war schwerer zu lösen: Nahrung. Die Konkurrenz war groß – Katzen, Möwen, und immer wieder diese Ratten mit ihren kalten Augen. Ich streifte über die Felsen, suchte, schnupperte, hoffte. Manchmal näherte ich mich vorsichtig den Menschen, die Leckereien bei sich trugen. Aber es war nicht leicht: Die Welt kann hart sein, wenn man kaum größer ist als eine Hand voll Fell. Die erste Woche war schwer. Aber ich wusste: Wenn ich diese Zeit überlebe, dann habe ich eine Chance. So vergingen die Tage. Eines Morgens, ich war gerade auf Futtersuche, begegneten mir zwei ältere Katzen. Einer von ihnen sah mich lange an und sagte schließlich:
„Hör mal, Kleine. Das hier ist kein guter Platz für dich. Such dir etwas anderes. Und noch etwas: Unter uns geht ein Virus um. Viele sind schon gestorben. Geh lieber, bevor es dich auch erwischt. “ Der andere nickte nur. Kein Wort. Dann verschwanden sie zwischen den Felsen. Ich dachte darüber nach. Meine Verdauung war nicht normal. Aber ich hatte keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Plötzlich schoss aus einer Ecke ein Hund hervor. Kinder spielten dort, Hunde rannten durcheinander. Der Hund hatte mich entdeckt. Ich schaffte es nicht mehr bis zu den Felsen. Dann kam der Schmerz. Stechend. Brennend. Tief in meinem Bauch. Der Hund hatte zugebissen – an der empfindlichsten Stelle. Ich schrie. Ich kämpfte. Krallte, biss, schlug um mich. Ich traf ihn offenbar dort, wo es ihm wehtat. Der Druck ließ nach. Ich war frei. Hinter mir hörte ich Kinder lachen. Das Schauspiel hatte ihnen gefallen.
Ich rannte, so schnell ich konnte, zurück zu meinem Versteck. Erst dort bemerkte ich das Blut. Nicht viel – aber genug, um mir Angst zu machen. Ich wusste nicht, was man in so einer Situation tut. Also versuchte ich zu schlafen. Doch der Hunger blieb. Später verließ ich mein Versteck erneut, obwohl der Schmerz kaum auszuhalten war. Ich erreichte noch die Promenade. Dann wurde alles schwarz.
Als ich wieder zu mir kam, war ich in einer Höhle – aber ohne Ausgang. Ein Gitter verschloss den Weg. Ich hörte Menschenstimmen. Langsam begriff ich: Ich war gefangen. Mein Bauch schmerzte höllisch. Und ich war allein. Ich erinnerte mich an die Geschichten meiner Mutter. Über die Menschen. Über Käfige. Ich zog mich in die hinterste Ecke zurück. Ich hörte andere Katzen. Viele. Die nächsten Tage sind verschwommen. Ich erinnere mich an einen Tisch. An Menschen um mich herum. Die Schmerzen wurden weniger. Aber mein Misstrauen blieb. Ich wollte zurück an meinen Strand. Doch das war unmöglich. Ich saß Tage in diesem Käfig. Man gab mir Futter. Es schmeckte nicht schlecht. Aber Freiheit tauscht man nicht gegen Nahrung. Eines Tages versuchte eine Frau, mich hochzunehmen. Ich wehrte mich mit allem, was ich hatte. Dann stellte sie einen kleinen Korb in meinen Käfig. Die Tür stand offen. Meine Neugier siegte. Kaum war ich drin, schloss sich die Tür. Wieder verloren. Der Korb wurde abgedeckt. Ich hörte fremde Stimmen. Dann wurde ich hochgehoben.
Ich kannte diese rollenden Kästen – Autos, nannten die Menschen sie. Ich wusste: Ich wurde fortgebracht. Als man den Korb wieder abstellte, war es hell. Ganz anders als am Strand. Ich saß in der hintersten Ecke des Käfigs und wartete auf das, was als Nächstes geschehen würde. Plötzlich wurde es hell. Jemand hatte die Decke entfernt. Ein älterer Mann öffnete die Tür und sagte leise: „Moana, komm. Du bist jetzt zuhause.“ Ich hielt inne. Die Stimme war angenehm, fast zärtlich. Zuerst wartete ich. Dann verließ ich den Käfig – schnell, bereit zu fliehen, bereit, mich zu verstecken. Alles war fremd. Kein Sand. Keine Felsen. Gerüche nach Essen, nach Parfüm, nach Menschen. Ich entdeckte einen braunen Kasten. Später hörte ich, dass sie ihn „Schrank“ nannten. Dahinter fühlte ich mich sicher. Doch er kam näher. Also wechselte ich den Ort. Hinter dem Sofa fand ich Ruhe. Er ließ mich dort. Die Müdigkeit übermannte mich.
Als ich erwachte, roch ich Futter. Und ich war durstig. Der Mann saß an einem Tisch, vertieft in ein Gerät. Er hatte mich nicht bemerkt. Ich folgte meiner Nase. Zum ersten Mal seit langer Zeit fraß ich ohne Angst. Ich nannte ihn „den Grauen“. Er rief mich mit sanfter Stimme: „Moana… komm.“ Ich ignorierte ihn. Vertrauen braucht Zeit. Ich fand Zuflucht unter dem Tisch, zwischen den Stühlen. Von dort aus konnte ich alles sehen. Ich erinnerte mich an die Geschichten meiner Mutter. Von einer Zeit bei einer alten Dame. Von Wärme. Von Sicherheit. Vielleicht, dachte ich, habe ich auch Glück. Und tatsächlich: Von diesem Tag an wurde ich ruhiger. Ich erkundete die Wohnung, sammelte Gerüche, speicherte sie ab. Der Graue respektierte mich. Er berührte mich nicht. Er wartete. Beim Essen erschien ich von selbst. Er teilte mit mir. Nach Wochen waren wir ein stilles Team.
Doch etwas stimmte nicht. Ich wusste es. Der Virus, vor dem man mich gewarnt hatte, hatte mich gefunden. Eines Morgens wachte ich mit furchtbaren Schmerzen auf. Ich musste mich übergeben. Der Graue geriet in Panik. Er telefonierte. Er kümmerte sich. Ich ließ ihn mich berühren. Ich war dankbar. Aber ich hatte keine Kraft mehr. Ich dachte: Unter anderen Umständen… Ich dachte: Danke. Ich sah ihn noch, wie er mich hielt. Dann schloss ich die Augen. Es ist vorbei, dachte ich.
Bitte vergib mir, mein Grauer. Danke. Ich liebe dich.